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Sprachlabor Babylon




  1. Man braucht’s vom Lebendigen
    Lucía Tirado
    Neues Deutschland vom 13.11.2012
    Auch ohne blühende Zukunft wird uns einiges blühen. Künstler fühlen das auf subtile Art vor. Auf hohem Niveau ist dafür das Format Performance perfekt geeignet. Mit ihm schuf die in verschiedenen Konstellationen agierende Gruppe Interrobang mit Till Müller-Klug und Nina Tecklenburg das »Sprachlabor Babylon« als ersten Teil einer Preenactment-Reihe in einer von Bundeskulturstiftung und Senat geförderten Doppelpasspartnerschaft mit den Sophiensaelen.
    Interrobang geht in seinem Projekt davon aus, dass gesprochene Sprache mit zunehmender Digitalisierung zu einem manipulierbaren Produkt wird. Google erfasse aktuell globale Sprachdaten zur Entwicklung von Echtzeitübersetzungstools für Handys, dient als ein Beispiel. Ein anderes benennt ein schon marktfähiges, Artikel schreiben- des Produkt.
    »Sprachlabor Babylon« prescht vorwärts, fegt territoriale Grenzen als Sprachschwelle weg. Mal drei Wochen in die Fremde reisen und sich dafür etwas von der dort üblichen Sprache buchen, ist die freundliche Variante der Fiktion. Ein Szenarium, das einem in gleichem Maße faszinierend wie erschreckend dämmert, denn hier geht es um gewünschte Einspeisung fremder Sprache oder bisher fremden Sprachniveaus ins eigene Hirn per »Blauwellen«. Hier geht es ums Deutsche. Wer beispielsweise unbedingt in die Kreise der Wiedererbauer des Berliner Stadtschlosses wolle, könnte Exzellenzdeutsch brauchen, um niedriger Angesiedelte angemessen in der dritten Person ansprechen zu können. Andere geplante, je nach Geldbeutel zu erwerbende Sprachprogramme könnten Hochleistungs-, Sicherheits- oder Foyerdeutsch sein. »Neukritisch« lässt sich vielleicht erfinden, »Wohlfühlisch« und mehr. Wer solche Programme verkaufen will, braucht Sprachprivateigentum. Die von den Performern erdachte Firma Deutsch eignete sich bereits Sätze aus dem Literaturschatz von Goethe bis Hesse an. Klingt gut. Das Programm »Hochpoetisch« taugt aber nicht für Konversation. Man braucht’s vom Lebendigen.
    Mit dem rechtlichen Hinweis auf dem Programmzettel, dass »Probanden« ihr Urheberrecht auf gespeicherte Sprachbeiträge abtreten, ist der Raubzug vorbereitet. Nina (Tecklenburg) und Martin (Schick) machen sich hochgepeitscht froh als Repräsentanten in Firmenkleidung mit den nummerierten Plätzen und den darüber baumelnden Kopfhörern mit Mikros vertraut. Wie armselig ihre gut gespielte Rolle ist, wird später klar. Der Sprachschatzraub beginnt. Die Probanden werden über Kopfhörer voneinander isoliert angesprochen. Sie müssen nichts sagen, aber die Eitelkeit kriegt Futter. Dafür wird etwas Gesagtes vor allen abgespielt und prämiert. Ein Mann in meiner Nähe redet ununterbrochen. Wird der sprachlich völlig ausgesaugt? Indessen halten Nina und Martin die Probanden bei Laune. Sie zelebrieren mehrfach schwungvoll den perfekt ein- studierten firmeneigenen Tanz mit firmeneigenem Gesang in deutscher Revuemanier der 30er Jahre (Musik: Friedrich Greiling). Süßigkeiten locken in gläsernen »Versorgungskugeln«, Proteinriegel und Energygetränke werden fürs Hochleistungsdenken spendiert. Nach dem Ausflug zu den vermeintlich kostenlosen Leckereien heißt es: »Vielen Dank für Ihr Pausengespräch!«. Ausgezeichnet wird in der Produktion mit schwarzem Humor der arrogante babylonische Anspruch entlarvt, sich das ständig verändernde »Lebewesen« Sprache tatsächlich aneignen zu können, ohne dass es Schaden nimmt. Auch die Gefahr, sich der Marktidee auszuliefern, ist deutlich. Nina müht sich am Ende allein beim Firmentanz, denn Martin ist inzwischen auf »Spardeutsch« umgepolt. Das reicht für »Hhm«. Mehr ist nicht drin.
    Ninas Guthaben läuft auch ab. »Sorgen« und »Bein« sind nicht mehr verfügbar. Ihr fehlen die Worte. Dann sind die beiden plötzlich wieder »aufgeladen«. Tja, die nächsten Probanden sind da.
  2. Sophiensaele Berlin: Interrobang – Sprachlabor Babylon
    Stefen Kassel
    Suite 101 online, 11.11.2012
    Das Ende der Performance ist eine Kopie des Anfangs. Zunächst werden die Zuschauer, die sich vor dem Hochzeitssaal an der Bar aufhalten, von den Akteuren Nina Tecklenburg und Martin Schick empfangen und abgeholt. Bevor es losgeht, wird das Publikum darüber informiert, was es mit dem Ausdruck ‚Preenactment’ überhaupt auf sich hat. Nun, das Performanceteam hat es sich zur Aufgabe gemacht, die gegenwärtige Sprache zu erforschen und neue Wortschöpfungen zu schaffen, die für die Zukunft Gültigkeit beanspruchen sollen. Zukunft sichern wird das genannt – am Ende des Abends werden die Einführungsworte noch einmal wiederholt, damit sie sich besser in die Gehirnwindungen eingraben. Ansonsten ist das Motto der Veranstaltung klar: Willkommen im Sprachlabor! Die Firma Deutsch arbeitet intensiv an der Sprachproduktion, kreiert neue Ausdrücke und Wortkombinationen und benötigt dazu die Unterstützung von willfährigen, relativ unerschütterlichen Probanden.
    Für die Zuschauer sind numerierte, einzeln platzierte Stühle vorgesehen, die mit Kopfhörern ausgestattet sind. Nach einer kurzen Aufforderung von Nina Tecklenburg werden die Geräte übergestülpt und die kleinen Mikrofone in Stellung gebracht.
    […]
    Die Atmosphäre ist wissenschaftlich, man wähnt sich tatsächlich in einer Laborstudie. Das Bühnenbild besteht aus einer weißen Wand, die mit Kabeln übersät ist, deren Stecker elektronische Kontakte herstellen. Immer wieder wählen Nina Tecklenburg und Martin Schick durch Umstecken neue Anschlüsse. Eine kleine Anzeigetafel vermittelt Minimalbotschaften, manchmal werden, wie in Bezirksämtern üblich, nur Nummern eingeblendet. Ausgewählte Personen erhalten einen Sekt, der die Toleranzschwelle nicht übersteigt und die auf der Zunge befindlichen Geschmacksknospen nicht unnötig überreizt. Die Besucher können sich Energiedrinks, die auf einem Tisch postiert sind, zu Gemüte führen, um sich eine kontemplative Phase zur inneren Stärkung zu gönnen. Eine Energiedrinkpause wird als 180-Sekunden-Generalpause anberaumt und die Pausengespräche werden vom unermüdlichen Forscherteam weiter verarbeitet.
    Kreativität ist gefordert, denn es entstehen sprachliche Schrumpfungsprozesse durch ausländische Konkurrenz. Obwohl die Firma Deutsch unsere Welt erweitern möchte und jeder Teilnehmer ein Teil eines großen Ganzen wird, besteht die Gefahr einer Stagnation. Aber warum? Es existiert doch ein Exzellenzdeutsch, das bürgerlich-aristokratischen Ursprungs ist. Nebenher läuft ein Spardeutsch, das sich eine Zeitlang vornehmlich bei Hobby-Bloggern festgesetzt hat. Diese Sprache besteht aus Wörtern wie ‚ächz’, ‚stöhn’, ‚freudig grins’ und ‚kicher’. Derartige Informationen sind für Besucher, die noch nie im Internet in den Genuss von gewissen Sätzen gekommen sind, etwa: ‚Eigentlich geht es mir heute gar nicht schlecht, lach’. Selbstverständlich wird der Forschungsdrang forciert, die Zuschauer werden dazu animiert, Wörter zu sagen, die niemand kennt. Dadurch entsteht ein Neudeutsch, zur Zukunftssicherung der deutschen Sprachkultur. Ein großer Vorteil der Aufführung ist, dass die Interaktion der Gäste systematisch weiterentwickelt wird. Sitznachbarn dürfen sich miteinander austauschen, das gehört ebenfalls zum Programm. Ein günstige Gelegenheit, einem Gegenüber etwas Sanftes zuzuflüstern oder ihn militärisch anzubrüllen. Die Evaluationsphase beginnt dann hinterher. Wie gesagt, der Blick ist in die Zukunft gerichtet. In summa: eine überaus interessante Performance, die man in dieser Art in einem Berliner Stadttheater so nicht geboten bekommt. Gelegentlich lohnt es sich, in den Sophiensaelen vorbeizusehen.

 

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